Die Sage vom Ilsenstein

Die Sage vom Ilsenstein

Auf dem nackten Felsen des Ilsenstein stand in alten Zeiten eine schöne Burg. Dieselbe gehörte einem reichen Ritter, der eine einzige Tochter Namens Hertha hatte. Die Schönheit derselben war weit und breit bekannt und es fehlte ihr deshalb nicht an Freiern, aber das Mädchen wollte zum Kummer des Vaters keinem ihre Hand reichen. Einst war der Ritter krank und da Hertha in der Heilkunde wohl erfahren war, ging sie in den Wald, um heilende Kräuter für ihren Vater zu sammeln.

Es war schon spät am Abend und tiefe Ruhe herrschte ringsum. Da hörte Hertha ein Knistern in den Zweigen und bald darauf trat ein Ritter aus dem Gebüsch, der sein Ross am Zügel führte.

„Was sucht ihr hier zu später Stunde?“ fragte sie den Fremden unwillig.

Der Ritter ließ sich dadurch nicht abschrecken, sondern sprach: „Der Drang nach Abenteuern führt mich hierher. Im Frankenlande hörte ich so viel von den tapferen Sachsen, dass ich beschloss, ihr Land und ihre Stärke kennen zu lernen. Nicht weit von hier steht ein Schloss, wo ich gastlich aufgenommen wurde. Die Herrin desselben hätte mich gern mit ihrer Tochter vermählt, doch ich liebte sie nicht und zog fort. Seitdem sehe ich fortwährend das Schloss vor mir, aus welchem das Burgfräulein winkt.“

Hertha erwiderte: „Das ist die Tochter der Zauberin Atletha, in deren Bann ihr geraten seid. Habt nur ein wenig Geduld, ich kann und will euch davon befreien. Erst aber haltet Wacht am Ufer der Ilse, damit ich nicht wieder gestört werde. Denn ich muss hier vor Mitternacht Heilkräuter zum Tranke für den kranken Vater sammeln.“

Der Ritter tat, wie ihm befohlen wurde. Als Hertha nach kurzer Zeit mit ihrer Arbeit fertig war, begleitete er das Mädchen bis zum väterlichen Schloss, wo er freundliche Aufnahme fand. In den langen Tagen der Krankheit und Genesung gewann der Burgherr den Gast so lieb, dass er denselben nicht ziehen lassen wollte, sondern den ganzen Winter durch auf der Burg behielt. Die beiden Männer sprachen meistens von ihren Erlebnissen im Kriege. Hertha ließ sich aber, so oft sie Gelegenheit fand, von dem Gotte der Christen erzählen, dessen Lehre ihr besser gefiel, als diejenigen ihrer grausamen heidnischen Götter.

Als der Frühling kam, wollte der Ritter endlich aufbrechen und in seine Heimat zurückkehren. Er dankte dem Burgherrn für die genossene Gastfreundschaft und sprach:

„Beim Abschied habe ich eine Bitte: Gebt mir Hertha zur Gemahlin. Ich liebe sie von Herzen und zweifle nicht, dass sie meine Neigung erwidert.“

Der Vater gab ihm seine Einwilligung, jedoch nur unter der Bedingung, dass er der christlichen Religion abschwöre. Schweren Herzens ging der Ritter hinaus und lenkte seine Schritte dem Walde zu, wo er Hertha zum ersten Male gesehen. Er nahm sich vor, eher seine Liebe als seine Religion zu ofern und lauschte traurig dem Murmeln der Ilse. Da hörte er Herthas Stimme:

„Warum so traurig, Herr Ritter? Gefällt es euch nicht länger bei uns?“

Der Gefragte antwortete: „Hertha, an dieser Stelle habe ich euch zum ersten Male gesehen. Hier will ich euch sagen, dass ihr mir lieber seid, als mein Leben. Euer Vater hat mir eure Hand verweigert, falls ich Christ bleibe. Ich darf und will jedoch meinen Glauben nicht verlassen.“

„Das sollt ihr auch nicht,“ erwiderte Hertha, „denn ich selbst will eine Christin werden und euch folgen, wohin ihr geht. Kommt mit mir an die Ilse. Dort will ich aus eurer Hand die Taufe empfangen.“

Freudig fasste der Ritter die Hand der geliebten und führte sie an den Fluss. Doch plötzlich erhob sich ein gewaltiger Wind und die Wellen der Ilse schlugen wild über das Ufer. Hertha ward von der Flut erfasst und in die Tiefe gezogen. „Taufe mich schnell, Geliebter,“ rief sie, „denn nur dadurch kann ich aus Atlethas Gewalt gerettet werden. Heute ist die Nacht vor dem ersten Mai, wo die Hexen, welche über diese Gegend Gewalt haben, nach dem Brocken reiten.“

Der Ritter versuchte vergebens, Wasser zu schöpfen. Es wich vor ihm zurück oder zerstäubte in Tropfen, wenn er es berührte. Da hörte er einen furchtbaren Schrei. Es war Hertha, welche in die Dunkelheit versank. Unheimliche Gestalten durchschwirrten die Luft und ein furchtbarer Krach erfolgte.

Betäubt fiel der Ritter zu Boden und als er wieder aufwachte, strahlte die Sonne glänzend am Himmel. Herthas Schloss war jedoch verschwunden. An der Stelle desselben erhob sich ein kahler Felsen, welcher noch heute „Ilsenstein“ heißt.

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Quelle:
Sagen und Mythen, herausgegeben von Josepha Schrakamp
Henry Holt and Company, New York, ca. 1893