Auf der Burg Tegelstein am Bodensee lebte einst eine reiche Witwe, Anna von Tegelstein, mit ihrem Sohne und drei Töchtern. Sie war eine überaus stolze Frau und gönnte den Armen kaum die Luft und das Brot.
Eines Tages kam auf die Burg eine Pächterin aus der Gegend, in Trauer gekleidet und sprach zur Edelfrau:
„Gnädige Frau, gestern ist meine einzige Tochter gestorben. Sie war erst achtzehn Jahre alt und die Freude meines Lebens. Nun möchte ich gern um ihre schwarzen Locken einen Kranz von weißen Rosen flechten, da sie doch eine Braut des Himmels geworden. Vergönnt mir, dass ich welche in Eurem Schlossgarten breche, wo sie so schön und reichlich blühen!“
„Was da!“, fuhr sie die stolze Frau an, „einen Kranz von Nesseln magst du für dein Mädel binden! Rosen geziemen sich nicht für so gemeines Volk. Die sind nur für unseres Gleichen!“
„Nun“, versetzte mit feierlichem Tone und einem klagenden Blicke zum Himmel die arme Pächterin, „so mögen denn Eure Rosen zu Todeskränzen für Eure Töchter werden!“ und verließ das Schloss.
Aber ihren Wunsch hatte Gott vernommen. Noch vor Ablauf eines Jahres starben alle drei Töchter der Edelfrau und jede trug im Sarg einen Kranz von weißen Rosen aus dem Burggarten. Und so lange das Geschlecht der Tegelsteiner blühte, sah man jedes mal, wenn der Tod eines weiblichen Abkömmlings nahe war, den Geist der hochmütigen Frau Anna um Mitternacht im Schlossgarten sitzen und einen Kranz von Rosen flechten.
—————————-
Quelle:
Badisches Sagenbuch, Band 1
Verlag von Creuzbauer und Kasper, Karlsruhe, 1846