Der Rattenfänger von Hameln

Der Rattenfänger von Hameln

In dem hannöverschen Städchen Hameln an der Weser wimmelte es im Jahre 1284 so von Ratten, dass die Menschen Tag und Nacht keine Ruhe hatten. Alle Bemühungen, das Ungeziefer zu töten, blieben erfolglos.

Da kam eines Tages ein fremder Mann nach Hameln, der sich für einen Rattenfänger ausgab. Er nannte sich Bunting, trug einen bunten Rock und großen Hut. Er versprach den Leuten, alle Ratten binnen vierundzwanzig Stunden zu töten, falls sie ihm eine bestimmte Summe Geldes geben wollten. Die Bürger gingen mit Freuden auf diesen Vorschlag ein.

Am nächsten Morgen durchschritt Bunting die Straßen der Stadt und blies dabei auf einer kleinen, sonderbaren Pfeife. Keine Ratte konnte den Tönen widerstehen, welche er derselben entlockte. Aus Küchen und Kellern, von Dächern und Dachrinnen, aus Türen und Fenstern sprangen und liefen Raten hervor und folgten ihm in immer größeren Scharen.

Bunting verließ die Stadt, ging an das Wasser der Weser, schürzte sich auf und ging ins Wasser. Das ganze Heer der Ratten, das seinen Zaubertönen blindlings folgte, stürzte ihm nach in die Wellen und mussten jämmerlich ertrinken.

Die Bürger waren herzlich froh, von der bösen Plage befreit zu sein und lebten förmlich auf. Als es aber ans Bezahlen ging, hätten sie ihr gutes Geld gerne in der Tasche behalten und fanden allerlei Ausreden. Einer sagte: „Die große Summe ist für die kleine Mühe viel zu viel.“ Ein anderer meinte, Bunting habe Zaubermittel gebraucht.

Nach langem Beraten kamen sie überein, Bunting nur die Hälfte der versprochenen Summe zu geben. Dieser geriet in heftigen Zorn, nannte den Magistrat treulos und rief entrüstet: „Behaltet auch die andere Hälfte eures Geldes; aber ihr sollt meine Rache fühlen!“ Damit stürmte er aus dem Saale und drehte der undankbaren Stadt den Rücken.

Die Bürger rieben sich vergnügt die Hände und sprachen: „Wie dumm war dieser Mensch, die gebotene Summe nicht anzunehmen. Aber es ist unser Glück. Ratten und Mäuse sind wir loch und behalten unser schönes Geld obendrein.“

Die Rache des beleidigten Rattenfängers blieb jedoch nicht lange aus. An einem schönen Sonntagmorgen im Sommer, als alle Erwachsenen in der Kirche und nur die Kinder zu Hause waren, betrat Bunting die verhasste Stadt, um seinen Racheplan auszuführen. Diesmal trug er einen grünen Jägerrock und einen roten Hut, unter dem seine Augen wild rollten. Die sonderbare Pfeife trug er in der Hand.

Wie er nun zu blasen begann, da öffneten sich wiederum alle Türen. Knaben und Mägdlein liefen ihm in Scharen nach, fassten sich an den Händen und tanzten vor Lust zu seinen wunderbaren Melodien. Auch die halberwachsene Tochter des Bürgermeisters schloss sich dem Zuge an, sowie ein blinder Knabe, der von einem stummen geführt ward. Bunting zog an der Spitze der jubelnden Schare zum Tore hinaus bis an den Klütberg. Dieser öffnete sich plötzlich. Der Pfeifer schritt voran. Die Kinder folgten ihm nach und kaum war das letzte Kinder hineingetreten, als der Berg sich wieder schloss.

Eine Kindermagt, welche aus der Ferne zugesehen hatte, lief in die Stadt und verkündete das schreckliche Ereignis. Da eilten die verzweifelten Eltern hinaus, um die verlorenen Kinder zu retten. Aber alles Suchen und Klagen war umsonst. Von den 133 Kindern, welche dem Rattenfänger gefolgt waren, kehrte keines zu den Seinen zurück. Jetzt bereuten die trauernden Eltern, jedoch zu spät, Bunting so schlecht behandelt zu haben.

In der Straße, durch welche die Kinder fortgezogen waren, durfte ferne keine Musik ertönen. Am Klütberge, wo sie verschwunden waren, wurden zwei Kreuze zum ewigen Andenken errichtet. In den späteren Jahren ist diese Begebenheit auf den Kirchenfenstern in hübscher Glasmalerei dargestellt worden.

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Quelle:
Sagen und Mythen, herausgegeben von Josepha Schrakamp
Henry Holt and Company, New York, ca. 1893