Des kranken Kindes Freude ist ein Märchen von Hans Christian Andersen:
Des kranken Kindes Freude
In der engen Straße einer großen Stadt, unten im niedrigen Keller, wohnte einmal ein armer, kranker Knabe. Der war von seiner ersten Kindheit an immer bettlägerig gewesen. Wenn er einmal recht gut daran war, so konnte er in dem kleinen Zimmer auf seinen Krücken ein paarmal auf und ab gehen und das war alles.
Einige Tage im Sommer fielen die Strahlen der Sonne eine halbe Stunde lang auf die kleinen Kellerfenster. Wenn dann der Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ, dann hieß es: „Ja, heute ist er draußen gewesen!“
Den Wald mit seinem wunderschönen Buchengrün kannte er nur dadurch, dass des Nachbars Sohn ihm den ersten Buchenzweig brachte. Den hielt er dann über seinen Kopf und träumte, er sei unter den Buchen, wo die Sonne scheint und die Vögel singen.
Eines Tages brachte des Nachbars Sohn ihm auch Wiesenblumen. Unter diesen war zufällig eine mit einer Wurzel. Diese wurde daher in einen Topf gepflanzt und ans Fenster gestellt. Dicht neben dem Bett.
Die Blume war von einer glücklichen Hand gepflanzt. Sie wuchs, trieb neue Schösslinge und hatte jedes Jahr ihre Blüten. Sie wurde für den kranken Knaben der schönste Garten, sein kleiner Schatz auf dieser Erde.
Er begoss und pflegte sie und sorgte dafür, dass sie jeden Sonnenstrahl bekam bis auf den allerletzten, der an dem Fenster vorbeiglitt. Und des Nachts träumte er von seiner Blume mit ihren Farben und ihrem Duft. Gegen sie wandte er sich noch im Sterben, als ihn der liebe Gott zu sich rief.
Ein Jahr ist er jetzt bei Gott. Ein Jahr hat die Blume am Fenster gestanden, verwelkt und vergessen. Nun ist sie bei einem Umzug mit dem Kehricht auf die Straße geworfen worden. Und diese Blume hat mehr Freude gemacht als die schönsten Blumen im Garten einer Königin.
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Quelle:
Unsere Heimat, Jägersche Buchdruckerei, Speyer, 1965