Der gläserne Löffel

Der gläserne Löffel ist ein Märchen von A. von Sternberg:

Es war einmal ein Bäcker, der hatte eine wunderschöne Tochter, die war sechs Jahre alt und hieß Fräulein Adeline Honigkuchen. Man konnte nichts Schöneres sehen, als dieses allerliebste Kind.

Sie war so fein und zierlich gebaut als hätte ein Künstler ihre kleinen Glieder aus Elfenbein gedrechselt und der Ausdruck ihres Gesichtes war die Unschuld und Fröhlichkeit selbst. Wenn der Bäcker buk, stand sie gewöhnlich am Troge. Wenn es grade recht feines Backwerk gab, so teilte der Vater der Tochter etwas von dem Teige mit. Sie fertigte ihrerseits was sie wollte, Brezeln, Sterne, Blumen, Körbchen, Vögel. Einstmals sagte sie:

„Nun will ich aber mein Meisterstück machen, damit die ehrliche Bäckerzunft sieht, dass ich alle Tage, wenn es mir gefällt, in ihre Reihen treten kann.“

„Nun was wird’s werden?“ fragte der Vater begierig.

„Ich will mir einen Mann backen,“ entgegnete das kleine Mädchen.

Und sogleich fing sie an, zog den Teigklumpen in die Länge, machte dann die Hälfte, der Länge nach einen Einschnitt, so dass es zwei stattliche Beine gab. Die Brust machte sie hoch und breit, so wie sie es an ihrem Vater sah und das Gesicht rund und voll.

Als der Mann im Groben fertig da lag, ging sie mit besonderer Mühe an die Einzelheiten. Sie gab ihm Haare von dem feinsten Mandelkern in unbeschreiblich feine Streifchen geschnitten, in einen zierlichen Scheitel geteilt, so dass rechts etwas Locken und links ein ganzer Büschel sich zusammenstanden. Kleine getrocknet Weinbeeren machten die tief schwarzen Augen, ein Mandelschnitt die Nase und eine rote Hagebuttenhälfte den Mund. Kleine Schnittchen Mandelkern bildeten auf der Oberlippe einen blonden Bart.

Die Ohren setzte sie etwas leichtfertig an die Seiten des Kopfes an, denn für die Ohren interessierte sie sich nicht sehr. Eben so wenig Sorge machte ihr der ganz übrige Körper.

„Er muss ja doch Kleider anziehen,“ sagte sie, „also wär´s unnütz, wenn ich viel an dem Mühe verschwendete, was man doch nicht sieht. Eins, zwei, … drei! Und mein Mann ist fertig.“

Sie ging nun zum Vater und bat ihn, dass er ihren Mann in den Ofen schieben möchte, denn sie werde noch heute Abend mit ihm irgendwo in Gesellschaft gehen. Da müsste er notwendig schon gar sein und sie fix und fertig und nicht mehr heiß, damit man sich nicht die Finger verbrenne.

Da Vater nahm den Mann, betrachtete ihn mit Lächeln und sagte:

„Du hast Dir ja einen recht hübschen Jungen gemacht!“

„O, er ist nicht übel!“ entgegnete das Kind, „und wie wird er erst Schmecken! Ich werde Nachbars Tinchen auch ein Stück von ihm geben.“

„Ei, das würdest Du nicht tun, wenn er lebte!“ sagte der Bäcker. „Kein Weib teilt ihren Mann mit einem andern Weibe.“

Und als der Bäcker dies sagte, streute er schönen, weißen Zucker auf den Mann und schob ihn in den Ofen. Adeline setzte sich an den Ofen und wartete ruhig, bis er fertig sein würde. Nebenbei dachte sie an die Worte ihres Vaters und rief schmerzlich:

„Ja, wenn er lebte! Aber er lebt nicht! Wenn er lebte, würde ich ihn auf´s innigste lieben und gewiss nicht das kleinste Stück von ihm weggeben.

„Fräulein Adeline Honigkuchen!“ rief hier plötzlich eine feine Stimme.

„Was ist´s?“ fragte sie erstaunt.

„Machen sie gefälligst ein wenig die Ofentür auf. Es ist hier innen gar zu heiß, ich möchte etwas Luft schöpfen.“

Adeline sprang hinzu und riß die Tür auf. Heraus trat, etwas gebückt, damit er sich oben an der berußten Wand nicht den Kopf anstoße, ein junger schmucker Herr von etwas siebzehn Jahren. Er ergriff des Bäckers abgelegte Schürze, band sie sich vor und machte dann gegen das junge Mädchen eine sehr zierliche Verbeugung.

„Ei, wer sind Sie?“ fragte diese.

„Das ist grausam,“ entgegnete er, stockend und errötend. Sie haben mich geschaffen und kennen mich jetzt nicht mehr.

Als er dies sagte, wischte er sich mit der Schürze des Bäckers eine Träne aus den hübschen dunklen Augen und der purpurrote Mund verzog sich unter dem zierlich gekräuselten blonden Schnurrbart zum Weinen.

Adeline weinte sogleich mit. Sie konnte Niemand weinen sehen, ohne sogleich mit zu weinen.

„Aber was ist den das alles?“ fragte sie endlich. „Ich habe einen Mann aus Zuckerbrezelteig in den Ofen geschoben.“

„Nun ja doch!“ reif der junge Mann immer noch weinend. „Das bin ich ja! Der alte hässliche Ofen hier steht auf einem Platze, wo vor grauen Jahren einst der Palast einer sehr mächtigen Fee gestanden hat: Diese hat den Ausspruch getan: Was an dieser Stelle gewünscht wird, soll in Erfüllung gehen. Und Sie, mein wunderschönes Fräulein Honigkuchen, haben gewünscht, dass ich leben soll und – ich lebe und bete Sie an.“

Hierauf sank er auf ein Knie und berührte mit seinen Lippen die Spitze des roten Pantöffelchens, das die kleine Bäckertochter an ihren kleinen Füßchen trug.

„O Herr!“ rief diese ganz beschämt, „aber wie – wie heißen Sie?“

Das haben Sie zu bestimmen, mein Fräulein,“ entgegnete er voll Ehrerbietung und immer noch auf dem einen Knie liegend.

„Ach, seien Sie still – wie soll ich das bestimmen? Mein Herr, Sie sind gar zu spaßhaft! I je! Und da haben Sie ja die Schürze meines Vaters um den Leib! Hören Sie, Männchen, lassen Sie das bleiben. Der Vater ist sehr eigen mit seinen Sachen und lieb, dass etwas von dem Orte, wo er es hingelegt, weggenommen wird. Ich will Ihnen hier mein seidnes Schürzchen geben. Da!“

Er legte mit vergnügen das seidene Schürzchen um.

„Da ist noch etwas Zuckerstaub auf Ihrer Nase!“ rief sie. „Kommen Sie her, ich puste es weg.
Und er legte seinen Kopf in ihren Schoß und sie blies ihm die Zuckerrestchen weg, die hier und da auf der Nase, den roten Wangen und den Hagebutten-Lippen zurückgeblieben waren.

„Können Sie mit diesen Lippen, die ich Ihnen gemacht, auch küssen?“ fragte sie treuherzig.

„Warum nicht?“ antwortete er lächelnd. „Probieren Sie´s mal.“

Und sie gab ihm einen herzhaften Kuss, bei welcher Gelegenheit sie bemerkte, dass der hübsche, blonde Bart so weich wie Seide war und gar nicht stach, wie des Vaters Bart, wenn der machesmal küsste.

„Jetzt gehen Sie, kaufen Sie sich Kleider,“ hob sie an. „Hier ist das Geld aus meiner Sparbüchse. Der Nachbar nebenan verkauft Kleider. Sie können sagen, Sie hätten im Flusse bei der Mühle und gebadet und man hätte Ihnen die Kleider gestohlen. Nun, haben Sie mich verstanden, Sie, Baron Mandelkern?“

„Erlauben Sie mir, mein engelschönes Fräulein,“ fragte der junge Mensch verlegen, „dass ich diesen Namen behalte?“

„Welchen Namen?“

„Mandelkern.“

„Ei, meinethalben!“ sagte das kleine Mädchen lachend. „Ich hab ihn zwar so hingesprochen, ohne allen Grund. Allein, gefällt er Ihnen, so behalten Sie ihn. Nun werde ich Sie, wie unsern hübschen ersten Gesellen nennen, nämlich Fritz. Also Fritz Mandelkern – auf Wiedersehn!“

Und damit klatschte sie lustig in die Hände und hüpfte fort, indem sie vor sich hin rief: „Jetzt hab ich einen hübschen Mann, der heißt Fritz Mandelkern und ich hab´ ihn mir selbst gemacht! Das können nicht alle Frauen von Ihren Männern sagen. Wenn er mir einmal böse Streiche macht, werde ich ihm zurufen: Hör mal Du! Du hast mir an Zuckerteig, Mandeln und Rosinen so und so viel gekostet – sei artig oder ich sage es dem Vater was für ein Patron Du bist. Er wirft Dich wieder in den Backtrog und backt dich um, so wie wir es mit den alt gewordenen Brezeln tun, die mand mehr haben mag.“

Aber Mandelkern machte keine bösen Streiche. Er war der artigste, gefälligste junge Mann wohl zwanzig Meilen in der Runde. Auf den Wink gehorsam und der kleinen Adeline wie ihr Schatten auf Tritt und Schritt nachfolgend.

Das war aber der kleinen Bäckertochter nicht recht und sie sagte eines Tages: „Geh in die Fremde. Ich werde Dir ein Stück Geld mitgeben und Du kannst Dein Glück versuchen. Hier will es nicht recht passen, dass Du mir immer so zur Hand bist. Die Leute fragen, wer Du eigentlich seiest und wo Du hergekommen. Diesen Fragen bin ich überdrüssig. Wenn ich ihnen auch hundertmal sage, es ist ein Vetter vom Land, so kommen sie gleich mit der Frage: ja, von welchem Lande? Und warum hat er so schwarze Augen und dabei einen so blonden Bart? Und warum kann er keinen Backofen ansehen ohne dass ihm schaudert und warum ist dies und warum ist das? – Kurz, es ist besser, Du gehst. In der Fremde kannst Du wie ein Prinz auftreten, denn ich gebe Dir alles Geld, was ich erspart seit vielen Jahren. Vielleicht kannst Du eine reiche Partie machen, was gar nicht so übel für Dich wäre.“

Und so zog der junge Mensch in die Fremde.

Nach einer Weile kam er wieder und rief traurig: „Es geht nicht. Ich werde ewig nicht mein Glück machen!“

„Und weshalb nicht?“ fragte sie.

Da stand er auf und rief zornig:

    Adeline Honigkuchen
    Soll ich ewig etwas suchen!
    Adeline Honigkuchen!
    Soll erzählen ich mit Fluchen
    Adeline Honigkuchen,
    Hat gemacht mich zum Eunuchen!

„Was ist das, ein Eunuch?“ fragte die kleine Bäckertochter ganz erstaunt.

„Ach, ich kann Ihnen das nicht erklären, mein liebes Fräulein,“ entgegnete er wehmütig. „Kurz gesagt, wie Sie mich schufen, haben Sie unbegreiflicher Nachlässigkeit etwas an mir vergessen.“

„Ei, was denn? Ich habe doch an alles gedacht.“

„Nicht an alles.“

„Und an was hätte ich nicht gedacht?“ fragte sie.

„Grässliches Schicksal!“ rief er, die Hände ringend und außer sich fort stürzend. Sie versteht mich nicht und mir verbietet es das Zartgefühl, mich deutlicher auszudrücken. Und wenn ich es ihr sagte, wer weiß, ob sie dann selbst mich verstände; sie ist so verzweifelt und unschuldig.

Und drei Nächte kam er und sang vor Adelinens Fenster, halb zornig, halb wehmütig:

    Adeline Honigkuchen
    Soll ich ewig etwas suchen?

„Ich weiß nicht, was Du suchest,“ rief sie ganz aufgebracht und warf das Fenster zu. „Alberne Zuckerteigpuppe. Geh mir aus den Augen und komm mir nieder in mein Haus.“

„Alberne Backtrog-Prinzess!“ schrie er dagegen. „Du selbst bist an Deinem und meinem Unglück schuld. Einfältiges Naseweis, nimmt sich vor, Männer zu schaffen und vergisst an ihnen das Wichtigste. Hab ich jemals eine so dumme Gans gesehn! Pfui, zum Kuckuck! Ich hätte die Mädchen auf dem Lande verständiger mir gedacht.“

Damit gingen die Beiden bitterbös von einander und sahen sich nie wieder.

Zwei Jahre drauf lebte in der benachbarten Residenz ein sehr reicher, schöner Mann, der Herr Graf Mandel von Mandelkern. Der freite um die jüngste Tochter des Königs und erhielt sie auch. Alle Welt sagte: Was für ein schönes Paar!

Die Hochzeitsnacht kam, da blieb der Herr Graf weg. Die Prinzessin Braut schickte nach ihm und der Page brachte die Antwort: der Herr Graf haben unleidliches Zahnweh und lassen sich entschuldigen.

Die Nacht drauf brachte der Page die Antwort: der Herr Graf haben ganz fürchterliches Nasenbluten und lassen sich entschuldigen.

Die Prinzessin dachte: so soll es die dritte Nacht sein, wo ich endlich unter die Haube komme. Aber auch in der dritten Nacht ließ der Graf sich entschuldigen. Der Page brachte die Antwort, dass er heftiges Leibschneiden bekommen, weil er unvorsichtiger Weise am Mittag einen Melonenkern verschluckt.

Da wurde die Prinzessin böse und der König wurde böse und der ganze Hof wurde böse. Der Graf erfuhr unter der Hand, dass man beabsichtige, ihn mit Schimpf und Schande aus dem Lande zu jagen, wenn er fortführe, an Zahnweh, Nasenbluten und Leibschneiden zu leiden.

Der Graf Mandel von Mandelkern war in einer sehr üblen Lage. „Du dumme Bauerndirne! Du Kröte! Du Seifenschaumgesicht!“ rief er und ballte die Faust nach dem Orte zu, wo der Bäcker wohnte. Aber sein Schimpfen half ihm zu nichts und machte nur, dass seine zarte Hautfarbe eine fleckige, unangenehme Röte annahm.

Er setzte sich darum hin, beruhigte sich wieder und beschäftigte sich, seinen blonden Bart zu kräuseln und seine goldgelben Locken in gehörige Ordnung zu legen. Da trat sein Kammerdiener herein und meldete, es sei draußen eine alte Bettlerin, die eine kleine Gabe fordere.

„Ei,“ rief der Graf unwillig, „sag ihr, ich gebe ihr, was ich nicht habe.“

Der Diener ging hinaus und kam mit der Antwort wieder, die Alte bedanke sich, sie hätte es nicht nötig, allein sie wolle dem Herrn Grafen schenken, was sie nicht habe.

Mandelkern sprang auf und rief: „Haltet sie fest. Bringt sie herein. Das ist eine kostbare Person! Ich werde sie bei ihrem Wort halten. Sie soll mir aus der Patsche helfen.“

Aber die Alte war fort. Niemand wusste sie zu finden. Der Graf Mandel von Mandelkern war außer sich, er ließ in die Zeitungen setzten: Wer ihm diejenige Person brächte, die ihm schenken wolle, was sie selbst nicht habe, solle eine Tonne Goldes erhalten.

Jedermann war über diesen seltsamen Aufruf befremdet. „Wie kam man schenken, was man nicht hat?“ fragten sich die Leute. Der Herr Graf muss verrückt sein. Wir begreifen es nicht.

Und die Prinzessin begriff es nicht und der ganze Hof begriff es nicht.

Der Graf, da die Bettlerin nicht zu finden war, wurde schwermütig und trieb sich ganze Tage und Nächte lang in den Wäldern und in der Einöde herum. Eines Abends betrat er einen finstern Wald, von dem die Sage ging, dass es darin nicht geheuer sei und dass Zauberer und Hexen daselbst hausen. Dem Grafen war es ganz gleichgültig. Das Leben war ihm zur Last. Wenn er die Bettlerin nicht fände, wollte er sterben.

Mitten im Wald stand eine Hütte. Daraus schimmerte ein Licht und ein Gesang tönte hervor. Dieser Gesang lautete:

    Ich bin die Frau von Lumpenstich
    Und lebe hier ganz königlich.
    Die Flohe sind mir Hofmamsellen.
    Die Mäus´ hab´n Kammerherrnstellen,
    Mein Kater
    Ist Intendant vom Hoftheater
    Um acht Uhr Abends tanzen nett
    Die Mücken mir ein Hofballet;
    Dann gibt’s ein Feuerwerk, ein Kranz
    Irrlichter rings im Feuertanz,
    Mein maitre de plaisir,
    Der grüne Frosch, bereitet´s mir;
    Dann geh beim Quinkeltren
    Der Unken ich am Teich spazieren.
    Zu Nacht gibt es Souper und Schmaus
    So ruh ich von dem Tagwerk aus.

Als die Bewohnerin der Hütte dies gesungen hatte, trat sie hinaus, um die Nachtkühle zu genießen. Da erkannte der Graf mit großer Freude, dass er die Bettlerin vor sich habe, denn der Diener hatte sie ihm so genau beschrieben, dass er unmöglich auch nur einen Augenblick zweifelhaft sein konnte.

Die Frau von Lumpenstich ihrerseits erkannte ihren Gast ebenfalls, gab sich aber das Ansehen, als wäre er ihr wildfremd. Beide machten einander eine sehr anständige Verbeugung und Frau von Lumpenstich nötigte den jungen Mann, in die Hütte zu treten.

„Mit wem hab ich die Ehre?“ fragte der Graf.

„Frau von Lumpenstich ist mein Name.“

„Ach – Madame. Sie gehen manchmal betteln?“

„Ja, mein Herr Graf, zu meinem Vergnügen. Ich habe nun einmal diese Passion.“

„Genieren Sie sich nicht, meine Gnädigste,“ entgegnete der Graf. „Jeder von uns hat seine Liebhabereien. Waren Sie nicht auch schon bei mir?“

„Es ist möglich!“ bemerkte die Dame. „Wenn ich einmal auf meiner Wanderung bin, kehre ich bald in dieses, bald in jenes Haus ein.“

„Und boten mir etwas an, was Sie selbst nicht besaßen?“

„Ganz recht. Ich bot Ihnen Reichtum und den besitze ich selbst nicht. Und Sie boten mir an, was Sie selbst nicht besitzen, nämlich Armut und da bemerkte ich, dass ich die nicht brauchen könne.“

„So ist´s nicht gemeint, alte Hexe!“ rief der Graf Mandelkern, jetzt in hellen, lichten Zorn ausbrechend. „Entweder Du gibst mir, was ich, wie Du weißt, nicht habe oder Du hast Deine letzte Stunde gelebt.“

Damit stürzte er sich auf sie, fasste sie an der Kehle und schüttelte sie so gewaltig, dass sie auf der Stelle des Todes zu sein vermeinte.

„Lass los! Lass los! Ungeheuer!“ schrie sie. „Ich will sehen, was sich in meiner Rumpelkammer für Dich findet.“

„Ah – nun sprechen Sie vernünftig, Frau von Lumpenstich,“ sagte Mandelkern, die Kehle der Alten frei lassend.
Sie nahm ihren Bund Schlüssel und schloss eine kleine Kammer auf, durch deren Tür sie und Mandelkern gebückt eintragen. In dieser Kammer lag eine Menge des so seltsamsten Kram´s durcheinander.

Alte Schränke, die auf drei Beinen standen und deren Türen lose in den Angeln hingen, zeigten im Strahl der Lampe, die die Alte in der Hand hielt, ihre schwarze von Würmern zerfressene Kruste. Morsche Koffer und halb zerfallene Kisten ließen einen wirren Wust von Lumpen aller Art blicken, die, wenn man sie anrührte, einen modrigen Dunst aushauchten.

Auf dem Boden standen Spinnräder, die längst nicht in Gang zu bringen waren und neben diesen Gerüste und Maschinen, deren Zweck niemand erriet. Sie sahen alt und grau aus, wie Alles was in dieser Kammer stand. Doch leuchtete noch hier und da ein Messingbeschlag oder ein kleines Stück eingelegten Glases. Auch Teller und Schüsseln standen da, von einer Form, wie man sie nirgends sah.

„Ei!“ rief Mandelkern, „hier werde ich doch nicht finden, was ich brauche.“

„Geduld, mein Sohn – Geduld!“ entgegnete die Alte. „Man sieht oft einem Dinge nicht an, wozu es gut ist. Wie gefällt euch, zum Beispiel dieser Löffel? Aber nehmt in Acht, lasst ihn nicht fallen. Ihr seht, er ist aus Glas.“

„Ich sehe es. Und dabei ist er ziemlich plump gearbeitet, mit einem dicken Stile,“ antwortete Mandelkern.

„Hasch – hasch!“ rief die Alte indem sie einen Sprung tat. „Seht, da habt Ihr ihn fallen lassen.“

Mandelkern fing den Löffel im Schoße auf und als er ihn fortnehmen wollte, war er dort angewachsen.

„Die alte schlug ein lautes Gelächter auf, nahm den Grafen am Arm, tanzte mit ihm in der Stube und sang dazu:

    Herr Ritter fein aus Zuckerteig,
    Das nenn´ ich einen lust´gen Streich!
    Nun endlich mal seid Ihr complet,
    Braucht nicht zu scheu´n ein Jungfernbett.
    Die Suppe war wohl da, Du Wicht
    Doch hattst Du keinen Löffel nicht.
    Jetzt hast Du beid´s, drum sätt´ge Dich
    Dies wünschet Dir Frau Lumpenstich!

Mandelkern sang dagegen:

    Es dankt der Frau von Lumpenstich
    Graf Mandelkern gar inniglich,
    Bei jeder Suppe, die er speist,
    Ihr künftig ihr den Dank erweist.

„Nun, mehr verlang´ ich nicht,“ sagte die Alte. „Nur eine Lehre muss ich hinzufügen. Nehmen Sie sich in Acht, Herr Graf, wenn Sie in das Land des Glas-Königs kommen. Dort wird man den Betrug entdecken und es könnte Ihnen das Leben kosten, denn die Glas-Prinzessin scherzt nicht. Also vorgesehen! Und nun gute Nacht.“

Mandelkern ließ jetzt seiner Prinzessin Braut sagen, dass er nicht mehr an Zahnweh, Nasenbluten und Leibschneiden litte und nun war Alles in rechtem Gleise. Die beiden Eheleute lebten mit einander wie im Paradiese.

Nach und nach fing jedoch Mandelkern der Ehrgeiz an zu stacheln. Dieser rief ihm zu: Du musst Dir ein Königreich erwerben, damit Deine Frau nichts vor Dir voraus hast. Gesagt, getan! Er zog aus, um sich ein Königreich zu erwerben.

Als er auf der Reise über einen Fluss setzte, sah er auf einem Strohhalm auf dem Wasser schwimmen eine Zikade, eine Schnecke und eine Mücke, der die Flügel versengt waren. Alle Drei suchten sich ans Ufer zu retten, aber es wäre ihnen nicht gelungen, denn die Flut trieb zu heftig.

Mandelkern zog den Strohhalm zu sich ins Boot und so kamen die Bedrängten glücklich ans Land. Sie vereinigten sich alle drei vor Mandelkern und sangen:

    Wir werden uns bedanken,
    Wir bleiben den Dank nicht schuldig.
    Sei nicht ungeduldig!
    Unser Treu ist ohne Wanken.
    Unser Wort ist heilig,
    Jetzt sind wir eilig,
    Wir müssen fort,
    Wir sehn uns wieder – auf unser Wort!

Damit verschwanden die drei Wanderer. Die Schnecke war noch am längsten zu sehen, denn sie kam nicht so rasch vorwärts wie ihre Gefährten.

Mandelkern wünschte ihnen eine glückliche Reise indem er ihnen lächeln nachrief: „Ihr braucht mir nicht zu danken, es ist gern geschehen.“ Allein sie hörten ihn nicht mehr.

Nun kam der Wanderer in das Reich des Glas-Königs. Hier waren der König und sämtliche Untertanen aus Glas gebildet. Sie waren darum auch sehr zerbrechlich und gingen miteinander so höflich und vorsichtiglich um, dass sie die geringste Berührung vermieden. Tritte, Stöße oder gar Schlägereien fanden nicht statt. Selbst die Küsse und Umarmungen der Liebenden wurden mit einer Zartheit und Vorsicht ausgeführt, die nichts zu wünschen übrig ließ.

Freilich gab es auch Leute, die von sehr groben Glase, sogenannten Bouteillenglase, gefort waren und die konnten schon einen Puff vertragen. Wenn es einen Krieg gab, so stellten sich die Parteien einander in langen Reihen gegenüber, nahmen einen Anlauf und rannten mit den Köpfen gegeneinander, von denen Unzählige zerbrachen und wodurch das Schlachtfeld fußhoch mit Glasscherben bedeckt wurde. Zum Glück waren aber solche mörderische Kriege selten. Der Glas-König liebte den Frieden.

Der Glas-König hatte eine wunderschöne Tochter, die noch Kind war. Aus dem feinsten, rosenroten Glase gebildet und bekleidet mit einem aus goldgelben Glasfäden gesponnenen Gewande, erschien sie als das vollkommenste, was man sehen konnte. Sie war so zierlich, dass der Vater, der sich ganz in sie verliebt hatte, sie immer auf dem Kaminsims in seiner Schreibstube stehen hatte, um sie in jeder Minute des Tages vor Augen zu haben.

Um sie vor jedem Staubfäserchen zu schützen und den Angriff einer unverschämten Fliege abzuhalten, hielt er sie unter einer Glasglocke. Jedes mal, wenn die Prinzessin ihrem Vater ein Wort sagen wollte, schlug sie mit einem kleinen gläsernen Hammer an die Wand der Glocke. Das gab einen so himmlisch süßen Harmonikaton, dass alle Welt davon entzückt war. Mandelkern, der die Prinzessin sah, war ebenfalls bezaubert von ihrer Schönheit.

Es war ein Gesetz im Lande, dass jeder Fremde, der die Grenzen des Glaskönigreichs überschritten hatte, nichts bei sich führen durfte, was von Glas war. Nicht einmal einen Glasknopf durfte er am Kleide haben. Wenn es dennoch geschah, so war dies ein Kapitalverbrechen und wurde mit dem Tode bestraft. Das Glas war heilig und nur im Lande selbst sah man es überall. Ein Fremder durfte sich nicht anmaßen, das Landesprodukt irgendwie an seiner Person oder seiner Umgebung zu entheiligen. Man kann sich denken wie Mandelkern einen gewissen Teil seines Körpers versteckte.

Es gelang ihm die Gunst des Glaskönigs sich in so hohem Grade zu erwerben, dass dieser gar nicht mehr ohne ihn leben konnte. In jeder Stunde des Tages musste Mandelkern um ihn sein und in der Nacht, während alles im Palaste schlief, musste er ihm Geschichten erzählen.

Dies erweckte den Neid des ganzen Hofes. Aber seine Feinde wussten nicht, wie sie Mandelkern ankommen sollten, da er nichts tat, was irgend einen Vorwurf ihm hätte zuziehen können. Allein der Zufall war ihnen behilflich.

Eines Tages badete Mandelkern im Meere, da hörte er am Ufer einen Vogel singen:

    Er hat doch etwas von Glas!
    Ich seh´ es klar.
    Er sprach nicht wahr.
    Er hat doch etwas von Glas!

Mandelkern sprang ans Ufer, fing den Vogel und tötete ihn. Allein den Gesang hatte noch jemand gehört, nämlich der Hofnarr des Königs, der in einiger Entfernung am Ufer Spazieren ging. Dieser war Mandelkerns erbittertster Feind, weil, seit jener am Hofe war, der König seine Märchen und Geschichten nicht mehr hören wollte.

Der Hofnarr hatte eine schöne Frau, die war so klug und verschmitzt, als ihr Mann einfältig und albern. Zu der sagte der Narr:

„Hör mal, der unverschämte Fremdling hat das Landesgebot überschritten und führt etwas von Glas bei sich. Was es ist, weiß ich nicht. Allein ein Zaubervogel hat´s mir verkündet. Such herauszukriegen was es ist, damit wir ihn dem Gesetz übergeben können und er zu nser aller Freude sein Leben verliere.“

„Gut,“ sagte das schlaue Weibchen. „Ich werde es schon herausbringen. Lass mich nur machen.“

Und nun schmeichelte sie Mandelkern, erzeigte ihm alles Gutes und nannte ihn öffentlich den schönsten Mann, den sie jemals gesehn. Sie ging noch weiter. Sie lud ihn ein in verschwiegener Stille eine Nachtstunde bei ihr zuzubringen. Mandelkern ging in die Falle. Als sie sein Geheimnis erraten hatte, überantwortete sie ihn ihrem Manne. Dieser führte ihn vor den König und der König, so leid es ihm tat, musste seinen früheren Liebling zum Tode verurteilen. Für´s erste wurde der Arme in ein tiefes Gefängnis geworfen.

Während er so elend dem Tode entgegen schmachtete, geschah es, dass ein Riese, der sich an der Grenze des Glaskönigreiches gelagert hatte, dem Könige sein höchstes Gut, seinen kostbarsten Schatz, seine kleine wunderschöne Tochter stahl. Es war dem Bösewicht gelungen, heimlich seine Boten in den Palast dringen zu lassen und die Prinzessin vom Kaminsims zu rauben, ohne dass der Vater, der im Nebenzimmer schlief, auch nur das leiseste Geräusch vernahm.

Das Ganze Königreich war in Verzweiflung. Es wurde verkündet, wer die Prinzessin wiederbrächte, sollte die Hälfte des Königreichs und zu noch große Schätze erhalten. Allein es fand sich niemand. Um in die Burg des Riesen zu gelangen, galt es fast unübersteigliche Hindernisse und Gefahren zu besiegen.

Als Mandelkern das Schicksal der Prinzessin erfuhr, erbot er sich mit kühnem Mute, sie zu befreien. Alle Welt war über diese Vermessenheit erstaunt und niemand glaubte, dass das Unternehmen gelingen werde. Es war auch über alle Maßen schwierig. Denn erstlich musste Mandelkern, um in die Burg des Riesen zu gelangen, einen Weg von anderthalb Stunden mit bloßen Füßen über eine Fläche machen, die ganz mit Glasscherben bedeckt war. Zweitens hatte der Riese nur ein Auge und war ganz von Eisen. Man konnte ihm nichts anhaben. Drittens war es gar nicht möglich in die Riesenburg zu gelangen, denn sie war ringsum von Wachen umstellt.

Alle diese Schwierigkeiten überdachte Mandelkern und war fast in Verzweiflung im Gedanken, dass er sein Unternehmen nicht werde ausführen können, als man ihm meldete, es seien im Gasthofe der Residenz drei vornehme Fremde angekommen, die ihn zu sprechen wünschten.

Als er nach den Namen der Ankömmlinge fragte, sagte man ihm, es sei eine Dame, die sich Frau Schneck von Schneckendorf nenne und eine große Anzahl grau gekleideter Diener und Kammerfrauen bei sich habe. Der Herr hieße Herr von Mückenstein und die andere Dame werde von ihrer Umgebung eine berühmte Sängerin genannt, mit Namen Pimpernille Cicada. Manderlkern wusste nicht was er aus diesen drei Fremden machen sollte. Als er sie aber sah und sprach, erkannte er gar wohl die drei Reisenden auf dem Strohhalm, die er einst vom Untergange gerettet und die nun kamen ihm ihren Dank abzustatten.

Frau Schneck trat auf ihn zu, machte ihm eine Verbeugung und sagte:

    Ich bin Frau von Schneck;
    Befreite nur keck
    Die gläsernen Scherben
    Ich bin dabei –
    Du sollst nicht verderben.

Er erwiderte die Verbeugung und sagte:

    Wohl denn! Es sei!

Dann trat der Herr von Mückenstein auf ihn zu und sprach mit feiner Stimme:

    Mein Liebster mein,
    Ich heiß Mückenstein,
    Steh ganz zu Ihrer Verfügung,
    Sie sollen sehn,
    Mit des Riesen Besiegung
    Soll es trefflich gehen.

Er gab den Gruß zurück und sagte sehr artig:

    Ich danke gar schön!

Nun kam die Sängerin, machte eine tiefe Verbeugung und sang:

    Hoff auf die Gnade
    Der göttlichen Zikade
    Die nie noch sang,
    Ohn dass sie unsterbliche
    Lorbeern errang!
    Dieses verderbliche
    Spiel wird sie wenden
    Von deinem Haupte ab.

Worauf Mandelkern der Sängerin mit einem gefahrvollen Ausdruck in Stimme und Gebärde erwiderte:

    Ich werd´ ihr spenden,
    Dank bis ans Grab.

Und nun unternahm er das Wagstück und es gelang. Die tausend und abertausend Diener der Frau Schneck überzogen die Glasscherbenstraße mit einem zähen Schleim, der an der Sonne trocknete und auf diese Weise eine ebne Kunststraße bildete, auf die Mandelkern gemächlich dahinschritt. Als er zur Burg des Riesen kam, fand er sämmtliche Dienerschaft in Schlag gesunken, denn eine große Anzahl Zikaden hatten so süß und verführerisch gesungen, dass auch kein Auge wach geblieben, ausgenommen das eine Auge des Riesen, der in seiner Burg auf der Lauer lag, denn er hatte Mandelkern schon kommen sehen.

Wütend raffte er sich auf, um den Eindringlich mit einem Todesstreich zu empfangen. Wirklich wäre es um den armen Mandelkern geschehen gewesen, wenn nicht in diesem Augenblick eine Mücke dem Riesen ins Auge geflogen wäre und ihn daher blind machte. So konnte Mandelkern ihn töten und die Prinzessin befreien.

Der König der Glas-Monarchie war so entzückt über dieses wundersame Ereignis und über die Besiegung seines hartnäckigsten Feindes, dass er Mandelkern sogleich sein Königreich und die Hand seiner Tochter anbot, die zwar noch sehr jung war, dennoch aber sich gern in den Willen ihres Vaters zu fügen versprach.

Mandelkern lehnte dies größmütige Anerbieten ab, indem er dem König mitteilte, dass er bereits vermählt sei. Allein die Hälfte des Königreichs nahm er an, machte daraus ein eigenes Reich und wählte sich selbst zu dessen König. So hatte er erreicht was er wünschte und kam unter Freude und Jubel heim. Die boshafte Frau des Hofnarren strafte er jedoch vorher noch, indem er sie in hunderttausend kleine Glasstücke zerschlug und diese ins Meer streute.

Bis in sein hundertachtzigstes Jahr regierte König Mandelkern mit dem gläsernen Löffel. Da geschah es, dass er einst einem Backofen zu nahe kam, in welchem gerade Zuckerteig gor. Er konnte dem Zug nicht wieder stehen und schlüpfte in den Ofen. Es blieb nicht von ihm übrig, als der gläserne Löffel, der in die königliche Kunstkammer gebracht wurde. Der Hof legte auf drei Jahre und drei Monate Trauer an.

Dies ist die Geschichte von dem gläsernen Löffel.

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Quelle:
Braune Märchen, von A. von Sternberg
Verlag von Franz Schlodtmann, 1850