Der Sprung vom Giebichenstein, eine alte deutsche Sage aus Thüringen.
Die Sage – Der Sprung vom Giebichenstein
Der junge Graf Ludwig von Thüringen zog umher nach ritterlichen Abenteuern. Nun lebte damals Friedrich, Pfalzgraf zu Sachsen, auf der Weißenburg bei dem Dorfe Scheiplitz und hatte ein über die Maßen schönes Weib, Adelheid, die Tochter eines Markgrafen von Stade.
Als nun einmal Mozelin, der Graf zu Rebra, ein Gastmahl anstellte, lud er auch den Pfalzgrafen mit seiner Gemahlin ein, wie nicht minder den Grafen Ludwig. Es wurde ein treffliches Bankett gehalten und Ludwig tanzte oft und viel mit der schönen Pfalzgräfin, ja er gewann sie sehr lieb und leider sie ihn auch. –
Als er ihr nun später, da Pfalzgraf Friedrich gerade abwesend war, einen Boten mit der Bitte um Erlaubnis, sie besuchen zu dürfen, zusandte, willigte sie gern ein und nahm den Grafen freudig auf. Da wurde ein gepflogen, welcher nicht gut war.
Als bald darauf eines Tages der Pfalzgraf Friedrich im Bade saß, vernahm er lauten Hörnerschall und Rüdengebell in der Nähe seines Schlosses und er fragte entrüstet, wer also so freventlich in seinen Wildbann breche? Nun lief Adelheid, sein Weib, stürmisch in das Zimmer und rief: „Du sitzest und suchst Deines Leibes Gemächlichkeit, während Du Deine Ehre, Dein Recht und Deiner Herrschaft Freiheit einbüßest und andere jagen bis unter Deines Schlosses Mauern.“
Auf solche Rede fuhr der Pfalzgraf stracks aus dem Bade, warf nur einen Mantel über sein Badehemd, stürmte in den Hof hinab, warf sich auf einen Hengst und sprengte mit Geschrei dem fliehenden Jäger, der kein anderer war, als Landgraf Ludwig von Thüringen. In einem Gehölz, die Reuse genannt, holte er ihn ein und strafte ihn mit heftigen Worten. Darauf schien der Jäger nur gewartet zu haben, denn er wandte sich plötzlich um und stieß dem Pfalzgrafen seinen Jagdspieß in den Leib, also dass er tot vom Rosse sank.
Des ermordeten Pfalzgrafen Witwe stellte sich sehr traurig und klagte laut, doch mochte es ihr wohl kein rechter Ernst sein. Denn Ludwig verließ sie keineswegs, sondern tröstete sie mit so wirksamen Zuspruch, dass sie nach Ablauf des Trauerjahres sich im ehelich verlobte und von ihm auf seine Schauenburg geführt wurde, wo er mit großer Pracht Hochzeit hielt. Frau Adelheid schenkte ihm vier Söhne und drei Töchter, von der älteste, auch Ludwig geheißen, der erste Landgraf in Thüringen genannt wurde und seines Vaters ganzes Erbe erhielt.
Graf Ludwig aber hatte vom Kaiser das Recht erhalten, Schlösser, Städte, Dörfer und Gerichte durch Kauf an sich zu bringen, so viel er konnte und mochte, auch neue zu bauen. Deshalb richtete er sein Hauptaugenmerk auf die Grenzen seines Landes und suchte sie durch Burgen und Städte zu befestigen. So entstand die Neuenburg an der Unstrut und das Städtchen Freiburg. Dann erbaute er auch das stattliche Schloss Wartburg, erneuerte das alte Eisenach und ließ es mit Mauern umgeben.
Wahrend dieser Zeit starb Kaiser Konrad, der Ludwig´s Freund war und ihn immer beschützte. Sobald ein neuer Kaiser gewählt war, brachten die Verwandten des ermordeten Pfalzgrafen wieder an, obwohl nun seit dem Mord bereits fünf Jahre verflossen waren. Der Kaiser ließ den Grafen von Thüringen vor sich laden, aber Ludwig trug Bedenken, zu erscheinen, hielt auch von da ab an keinem bestimmten Ort mehr auf, sondern war bald in dieser, bald in jener Burg. Er wusste wohl, dass der Kaiser auf ihn suchen lies und entging so noch eine geraume Zeit der drohenden Haft. –
Trotz aller Vorsicht des thüringischen Grafen geschah es endlich aber dennoch, dass er unversehens in die Gewalt der kaiserlichen Dienstmannen kam, die aller Orten heimlich auf ihn lauerten. Da wurde er nach dem Bergschloss Giebichenstein bei Halle geführt und dort in enge und lange Haft gelegt, denn der Kaiser war außer Landes gezogen und der Gefangene sollte seines Urteils bis zu dessen Rückkehr warten und durfte sich auch zu dem Richterspruch des Kaisers nicht viel des Guten getrösten.
Zwei Jahre und acht Monate saß Ludwig gefesselt in dem Kerkergemach und hatte Zeit genug, seine Sünden zu bereuen. Traurig sah er hinab auf die Saale, die damals näher wie jetzt an dem Burgberge vorüber floss und hinüber in die grüne, freundliche Aue. Ein Entkommen schien unmöglich, denn nächstdem, dass er an einen Block gefesselt war, wurde er auch noch fortwährend von sechs Rittern bewacht. Und dennoch sann er Tag und Nacht auf Flucht, zumal die Kunde von des Kaisers naher Rückkehr zu ihm gelangte und es allen Anschein hatte, als ob des Kaisers Gericht ihm das Leben absprechen würde.
Da forderte der Gefangene, dass man seinen Schreiber zu ihm lasse, damit er sein Zeitliches ordne und sein Haus bestelle. Auch verlangte er seinen Diener, den er mit Botschaft an Frau Adelheid senden wolle. Als dieses ihm gestattet worden war, gebot er dem Diener heimlich, seinen weißen Hengst, den er nur den Schwan nannte, herbei zu bringen, an einem Tage, den er ihm bestimmte und zu einer besonderen Stunde am Ufer der Saale zu halten, auch das Ross in den Fluss, wie zur Schwemme zu reiten.
Hierauf ließ Graf Ludwig sich äußerst betrübt schauen über sein nahe gefürchtetes Ende, er aß nicht und trank nicht, der Schlaf floh im auch und er klagte nun denen, die ihn bewachten, seine ernstliche Krankheit. Dadurch erlangte er, dass sie ihn der Fesseln entledigten. Er aber hielt sich ganz wie ein Sterbender, ordnete sein Seelgeräte und ließ sich ein Sterbehemd bereiten. Auch klagte er über Frost, ließ sich noch einige Mäntel bringen, um sich damit zuzudecken und erwartete so, auf dem Lager liegend, seine Zeit und Stunde. Dabei gelobte er im heimlichen Gebet seinem Schutzpatron St. Ulrich eine neue Kirche, wenn er ihm aus der Haft helfen würde.
Unterdessen richteten seine Diener alles getreulich aus, wie er ihnen befohlen. Am bestimmten Tage hielt der Knecht mit dem Schwan der Burg gegenüber, einige Fischer fuhren mit zwei Kähnen den Saalstrom auf und ab und hatten fleißig Acht, ob sich oben im Mußhaus das große Fenster, das gerade herab auf die Saale sah, nicht öffnen werde.
Die sechs Hüter des Grafen hatten wie immer das Haus gut und fest verschlossen, saßen beieinander und spielten ein Brettspiel. Der Kranke verspürte eine Besserung wolle versuchen, ob er wieder gehen könne. Er ließ sich einen Stab reichen und versuchte einige Gänge im Zimmer auf und ab; doch war er noch ganz schwach und fror, weshalb er auch seine Mäntel um behielt.
In dem steinernen Zimmer war es noch kühl; draußen aber schien die Sommersonne – es war im Monat August – warm und freundlich; daher öffnete der frierende Mann das große Fenster, um sich von ihren Strahlen erwärmen zu lassen. Ein Zeichen, – ein Ruf: „Hilf Deinem Knecht, Jungfrau Maria!“ – und ein Mantel sank, der Stab rollte in das Gemacht und die eifrigen Brettspieler fuhren auf.
Wo war der Gefangene?
Turmhoch hinab trugen die von den Lüften geschwellten Mäntel den kühnen Springer, rasch waren die Ruderer unten zur Hand. Der Gefangene war frei, die Wächter oben hatten das Nachsehen, wie er die nassen Mäntel abwarf, sich auf sein gutes Ross schwang und in der Richtung nach seiner Stadt Sangerhausen hin verschwand. Dort erfüllte er sein Gelübde, baute St. Ulrich eine stattliche Kirche und erhielt von dieser Zeit an den Zunamen: der Springer.
Der Kaiser aber sah in der wunderbaren Rettung des Grafen Ludwig einen Fingerzeig des Himmels und so verzieh auch er ihm seine Schuld, so dass Ludwig fortan in Frieden leben konnte.
<h5>Quellenangabe – Der Sprung vom Giebichenstein</h5>
Erzählt von Franz Hoffmann, E. Steiger Verlag, 1871, New York